Ach je, Herr Urban

500 Jahre nach Martin Luthers Reformation hat sich die evangelische Kirche davon verabschiedet, auch Kirche der Aufklärung zu sein. Sie ist zum bloßen Sozialverein geworden, gefangen in einem archaischen Weltbild. Das Sagen haben zunehmend die antiintellektuellen, bildungsfeindlichen Fundamentalisten. Diese nehmen die Bibel wörtlich und missachten die Erkenntnisse der Wissenschaften einschließlich der Theologie. Ein fundamentalistischer Glaube provoziert heute weltweit in allen Religionen Intoleranz und Gewalt.
Martin Urban, Ach Gott, die Kirche! Protestantischer Fundamentalismus und 500 Jahre Reformation, dtv premium, 270 S., 14,90 €.

Urban, ehemaliger Wissenschaftsredakteur der süddeutschen Zeitung, arbeitet in seinem neuen Buch “Ach Gott, die Kirche” die Ressentiments gegen sein evangelisches Elternhaus ab. Seine Hauptthese: Im evangelischen Kirchenleben kommen Ergebnisse von historisch-kritischer Theologie nicht vor, wissenschaftliche Erkenntnisse spielen nur noch eine nachrangige Rolle, die Kirche wehrt sich nicht ausreichend gegen ihren politisch rechten, fundamentalistischen Flügel.

Auch wenn man die Kritik an den Konservativen teilen kann, so ist die Argumentation doch völlig verunglückt.  Fundamentalisten sind nahezu immun gegen externe  Kritik,  allenfalls durch systemimmanente subversive Rückfragen zu erreichen, wie es  Hubert Schleicher in einem wunderbaren Buch vorführt. Und allen anderen evangelischen Christen? Zumindest den kirchenfernen Mitgliedern wirft Urban damit das Austrittsformular in den Briefkasten.

Zu Unrecht. Denn am meisten frustrierend ist, dass dieses Buch nichts wirklich Neues zur Diskussion beiträgt. Dabei ist es doch eine der spannendsten Fragen überhaupt, wie Naturwissenschaften und Theologie zusammen gehören, gerade hier in München mit der Wolfhart Pannenberg Forschungsstelle. Urban hätte auch nur ein paar Bücher in der Bibliothek am Geschwister Scholl Platz aus dem Regal holen müssen, etwa von McGrath, Barbour, Coulson, Pannenberg, Peacocke, Polkinghorne, Teilhard de Chardin,  Torrance, Flew, van Fransen man sitzt da übrigens mit weitem Blick auf die Leopoldstraße. Nur Pressemitteilungen von idea und Friedrich Wilhelm Graf zu kontrastieren und darunter etwas Singersche Neurophysiologie zu rühren (“Denken ist anstrengend”, S.26), ach je, Herr Urban.

Historisch fällt das ganze Unternehmen auch mehr auf die frühe Barth Ära zurück. Es ist wohl schon vergessen, dass auch Barth’s Römerbrief Kommentar politisch motiviert war, nämlich als Reaktion auf den rechtsnationalen Aufruf “An die Kulturwelt”, der den ersten Weltkrieg als Verteidigungskampf deutscher Kultur rechtfertigt. Zunächst als Manifest der 93, dann als Erklärung der Hochschullehrer des deutschen Reiches (u.a. von Harnack, Sibelius und Bultmann unterschrieben) war es für Barth die politische Bankrotterklärung liberaler Theologie. So schreibt er in dem 1922 Vorwort zum revidierten Römerbrief

Aber nicht die historische Kritik mache ich ihnen zum Vorwurf, deren Recht und Notwendigkeit ich vielmehr noch einmal ausdrücklich anerkenne, sondern ihr Stehenbleiben bei einer Erklärung des Textes, die ich keine Erklärung nennen kann, sondern nur den primitiven Versuch einer solchen, nämlich bei der Feststellung dessen‚ was da steht, mittelst Übertragung und Umschreibung der griechischen Wörter und Wortgruppen.

Die meisten evangelischen Kirchgängerinnen und Kirchgänger wissen von dem Spannungsverhältnis zwischen historischen Fakten, Textniederschrift, Gemeindebildung und 2000 Jahren Tradition. Mehr als von den historischen Fakten hängt das Ergebnis jeder Forschung von der jeweiligen positiven oder negativen, gläubigen, zweifelnden oder ablehnenden Grundhaltung des Forschers ab. Fundamentalisten opfern dabei selbst ihren gesunden Menschenverstand. Verwunderlich wäre jetzt aber doch, wenn umgekehrt mit wissenschaftlichen Methoden auf einmal normative religiöse Aussagen getroffen (oder widerlegt) werden könnten. Denn Urban opfert in “Ach Gott, die Kirche” alle religiösen Glaubenssätze, es geht schliesslich um gesichertes Wissen, das so irrationale Glaubensätze: Schöpfung! Gottessohnschaft! Auferstehung! nicht zu lässt. Dabei sind Glaubenssätze für die allermeisten Menschen wichtiger für ein gelingendes Leben, als  das gesicherte Wissen über Alpha centauri (der Vergleich hinkt, aber auch naturwissenschaftlich ausgebildete Ärzte wenden trotz jeglichem Beweis Homöopathie erfolgreich an).

Auch wenn es unmöglich ist, von der Wissenschaft zu reden oder der Theologie — wir reden hier wie da von Wahrscheinlichkeiten. Unsere  Wirklichkeit ist auch nicht die “physikalische” Welt, sie wird es erst durch erst durch unsere Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmung unterliegt der Interpretation, ist biologisch auf 1200 ml Gehirnmasse und intellektuell auf unser Glaubenssystem beschränkt. Selbst wenn – nach Hawkins “Gott mit großer Wahrscheinlichkeit nicht existiert”, hat es Gott überhaupt nötig, in unserem Denksystem zu “existieren”?  Oder zum Allmachtsparadoxon: Ist es ein Gott, der sich an Naturgesetze hält? Ich glaube schon. Aber das kann man glauben oder auch nicht, wie die meisten Verfasser der biblischen Bücher. Die im übrigen schon vor tausenden von Jahren, Wunder auch nicht normal fanden und daher die Wundergeschichten der Nachwelt überliefern wollten.

Aus naturwissenschaftlichen Sicht jedenfalls erstaunt die naive Wissenschaftsgläubigkeit eines Journalisten, der Wissenschaft bewundernd von aussen wahrnimmt, ohne selbst je Akteur gewesen zu sein. Wissenschaft ist auch ein Glaubenssystem, vielleicht muss man das mal wiederholen? Bis heute sind die thermodynamischen Hauptsätze mathematisch nicht bewiesen. Und auch in der Wissenschaft gibt es ein sacrificium intellectus. Und Wissenschaft ist selbst oft genug wissenschaftsfeindlich. Dafür treffen umgekehrt viele Wissenschaftlichkeitskriterien – Einfachheit, Evidenz, Erklärungswert, Widerspruchsfreiheit – auch auf religiöse Glaubenssysteme zu. Einfach sind religiöse Erklärungen der Welt allemal. Die Evidenz ist zwar dürftig, dafür aber mit beträchtlichem Erklärungswert. Zumindest für Zeugen Jehovas ist der Glaube auch noch widerspruchsfrei.

Nehmen wir also die Falsifizierbarkeit noch mit auf, für Urban das beste Wissenschaftskriterium. Es ist in der Tat eine nette theoretische Forderung, die aber leider praktisch kaum weiter hilft. In der Biologie komplexer Organismen hängt alles mit allem zusammen, es gibt kein Experiment, das unwiderruflich eine falsche Hypothese widerlegen würde.  Es wird auch kein Wissenschaftler dadurch berühmt, dass er die Hypothese von jemand anderem falsifiziert hat, im Gegenteil man handelt sich eine Menge Ärger ein. Die meisten! wissenschaftliche Hypothesen können nicht falsifiziert werden, weil das Geld fehlt. Es ist keine passende Methode verfügbar. Oder es interessiert sich einfach niemand für den Sachverhalt: klinische Studien gibt es nur für kommerziell interessante Präparate. Und nur ein geringer Teil des verbreiteten Wissenschaftsbetrugs wird jemals aufgeklärt. Keine Frage also: Wissenschaft ist ein weitgehend rationales Glaubenssystem, wo über lange Zeiträume Irrtümer nicht ausgeräumt werden. Begründetes, geordnetes und gesichertes Wissen? Daran glaubt man doch allenfalls noch im Grundstudium. Religion hat generell  weniger den Anspruch, rationale Erklärungen zu tradieren,  sondern eher das  soziale und kulturelle Miteinander, menschliche Verhalten und Wertvorstellungen zu prägen legitimiert durch  transzendente Offenbarung oder auch intuitiver Erfahrung.

Was ist aber nun, wenn Glaubenssystem W wie Wissenschaft mit Glaubenssystem C wie Christentum in Einzelaussagen kollidieren? Sind Glaubenssysteme W und C hierarchisch in einem Super Glaubenssystem S organisiert? Das entscheidet, ob im Konfliktfall W oder C recht hat? Offensichtlich so für Urban, und offensichtlich so für christliche Fundamentalisten, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Nicht so bei Paulus, der einräumt, dass sein Erkennen lückenhaft ist. Auch nicht so bei Peter Lipton. Der jüdische Philosoph hat dazu geschrieben, ja, Widersprüche zwischen Wissenschaft und Religion bestehen. (Nebenei an alle albernen  Spaghettimonster oder Hawkins’sche Kobold Anhänger: Tatbestand einer Religion ist, dass eine Mindestzahl von Menschen an das Über-sinnliche glaubt und nicht nur so tut. Auch die Evangelischen glauben nicht blind. Es fehlt Euch nach Schleiermacher „das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott“).

Zurück zu den Widersprüchen zwischen Wissenschaft und Religion und Lipton. Man kann entweder die Inhalte oder die Einstellung für sich anpassen. Lipton schlägt vor, die Einstellung zu ändern. Es schafft die Widersprüche nicht aus der Welt, man muss sie aushalten. Manche werden sich von selbst auflösen durch Fortschritte in der Erkenntnis. Vieles lässt sich nicht auflösen, was uns zu Vorsicht erzieht – in Liptons Worten “One may consistently immerse in both, but not consistently believe both”. Lipton bleibt Realist in Bezug auf Wissenschaft, aber Idealist in Bezug auf Religion. Und ansonsten Agnostizist.

Ich versuche es noch einfacher auf den Punkt zu bringen: Solange uns bewusst ist, dass dies “nur” unsere Einstellung ist und nicht die allein selig machende Wahrheit, sind wir gegen Fundamentalismus immun. Nicht nur der islamische auch der christliche Fundamentalismus ist nämlich eine tödliche Gefahr.

Am Ende treffen wir uns hier auch wieder, was die Einschätzung von wahllos zusammengestellten Bibelzitaten (“Losungen”), fundamentalistisch munitioniertem AFD Wahlkampf, evangelikaler Mission a la  Parzany und Latzel angeht. Schwer erträglich alles, aber die ach so geschmähte Kirche hat doch reagiert – siehe www.evangelisch.de. Was hätte sie auch sonst machen sollen – exorzieren oder exkommunizieren? Jesus zeigte auch Verständnis: “Selig sind die Armen im Geiste“.

Dahin hätte man auch ohne Irrweg kommen können. Und ohne so ein zerrupftes Gefieder, mit dem sich Martin Urban über das letzten Kapitel rettet. Das reformatorische “Kampflied” Martin Luthers ging  ja auch ganz anders, nämlich so

Ach Gott, vom Himmel sieh darein
Und laß dich das erbarmen,
Wie wenig sind der Heiligen dein,
Verlassen sind wir Armen.
Dein Wort man läßt nicht haben wahr,
Der Glaub ist auch verloschen gar.