Verrechtlichung

Ich war mir nicht sicher, ob es das Wort überhaupt gibt. Aber nachdem auf rechtssoziologie-online.de (einem Lehrbuch im Status nascendi) darüber ein ganzer Beitrag steht “IV. Die Hypothese vom Anschwellen des Rechtsstoffs und der Verrechtlichung der Gesellschaft” und sich auch Habermas dazu geäussert hat, ist es durchaus gerechtfertigt, darüber nachzudenken.

der Ausdruck bezieht sich ganz allgemein auf die in modernen Gesellschaften zu beobachtende Tendenz der Vermehrung des geschriebenen Rechts. Dabei können wir eine Ausdehnung und eine Verdichtung des Rechts unterscheiden.

Gehen wir also drei aktuelle Fälle durch und lesen dann nach.

Zum einen war ich im letzten Jahr auf dem Psychiatrie Hearing in Berlin. Hier wurde klar, dass Juristen immer mehr über medizinische Sachverhalte entscheiden – leider nicht immer zugunsten der Betroffenen sondern zugunsten eines abstrakten Prinzips. Und nachdem ich nun auch vor kurzem eine Arbeitsrichterin in München kennengelernt habe, die den Unterschied zwischen kognitiven und affektiven Störungen nicht kennt, komme ich zu dem Schluss , es läuft gehörig etwas schief in unserer Republik.

In der letzte Woche konnte man dann von dem Rauswurf von Bundesrichter a.D. Fischer lesen. Fischer griff die ZEIT an,  sie könne in der “Wedel Affäre” nicht die Beweislage darstellen, auswerten und beurteilen, das stehe nur einem Gericht zu. Es ist eine steile These, denn damit wäre Watergate aber auch viele andere Skandale nicht aufgedeckt worden.

Gestern kam dann auch die Festnahme des abgesetzten katalanischen Präsidenten Puigdemont in den Nachrichten. Andere EU Länder – Frankreich, Schweiz, Belgien, Dänemark, Schweden, Finnland – haben sich wohlweislich um eine Festnahme gedrückt, denn der Konflikt zwischen Katalanen und Spaniern ist ein politischer und kein juristischer Konflikt. Allerdings scheinen deutsche Oberstaatsanwälte ein grösseres Ordnungspflichtbewusstsein zu haben als Oberstaatsanwälte in anderen Ländern.

Drei sehr unterschiedliche Beispiele zu der Verrechtlichung, eines aus der Medizin als Beispiel der überforderten Justiz, eines aus den Medien zur Allmachtsphantasie und ein drittes das die national unterschiedliche Ausprägung der Verrechtlichung zeigt.

Und was sagt der Fachtext dazu?

Die Bürokratisierung des Staatsapparats ist weiter fortgeschritten. Durch die Erweiterung der Staatsaufgaben auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, der Organisation des Wohlfahrtsstaats und durch den enormen Bedarf rechtlicher Regelungen, die auf die moderne Technik reagieren, hat das Recht neue, bis dahin ungeahnte Dimensionen angenommen. Heute ist die Rede von der Gesetzesflut oder von der zunehmenden Verrechtlichung der Gesellschaft weit verbreitet.

Interessanterweise sind die Beispiele nicht der Normenflut (“Vergesetzlichung”), der Bürokratisierung oder der Prozeßflut (»Justizialisierung«) entnommen sondern beschreiben vor allem die Zuständigkeitsausweitung (“Amtsanmaßung”).

Die Fischer Affäre hat sich nun erledigt,  Puigdemont geht nach Brüssel zurück, nachdem ihn nicht mal Spaniens Justiz mehr haben will.

Aber im ersten Fall geht die Verrechtlichung unbeirrt weiter. Das BVerfG gibt unter der Überschrift “Selbstbestimmungsrechte von Patienten gestärkt” den Richtern mehr Macht aber nicht den Patienten. Das BVerfG ist die Qualifikation der Richter für diese Art von Entscheidungen völlig egal

Wir wissen wenig, was bei einer Fixierung passiert, das liege “eher im Graubereich”, hatte Gerichtspräsident Voßkuhle schon bei der Verhandlung im Januar den Anspruch verdeutlicht, wohin das Gericht will: Rechtsstaatliche Standards für die in Kliniken Untergebrachten. Den größtmöglichen Entzug der Freiheit, nämlich auf Null, sich nicht mehr bewegen zu können, das kann nicht nur ein Arzt anordnen, das muss ein Richter tun.
Ganz nebenbei legen die Roten Roben hier ein Konjunkturprogramm für die Justiz auf. Bundesweite richterliche Bereitschaftsdienste von sechs bis 21 Uhr bedeuten zwangsläufig: mehr Richterstellen, die Länder sind hier gefordert. Die richterliche Zustimmung für das Fesseln eines Patienten soll vorher erfolgen – grundsätzlich….
Die Verfassungsrichter sind aber nicht naiv; der Kranke hält sich mit seinem Aggressionsausbruch nicht an Dienstzeiten; es passiert nachts, es passiert von jetzt auf gleich, keine Zeit für das Telefonat mit dem Richter. Also muss die Klinik unverzüglich danach, etwa morgens um sechs, die richterliche Genehmigung einholen, und sie muss den Fixierten belehren, dass er die Fesselung gerichtlich überprüfen lassen kann.

Welcher Richter wird morgens um 6 Uhr in eine Klink fahren und hat sich dabei noch vorher die Akte im Gericht angesehen? Und welcher Richter wird der ärztlichen Meinung widersprechen, vor allem wenn es die hundertste Anhörung im Jahr ist?