Die Meinung der Epidemiologen (6000 Tote XI)

Joachim Müller Jung lässt in der FAZ “unabhängige” Experten zu Wort kommen.

Das „Science Media Center“, das unabhängig von klassischen Medien, Institutionen und Verbänden recherchiert, hat Stimmen internationaler Forscher eingeholt, die – anders als die Verfasser der Stellungnahme – mit der Erforschung der Gesundheitsgefahren von Luftschadstoffen befasst sind.

Unabhängig von klassischen Medien, wie geht das? Und Position beziehen, bereits im ersten Satz? Ich gehöre nicht zu den Unterzeichnern der Stellungnahme, aber natürlich haben viele der Unterzeichner auch zu Luftschadstoffen gearbeitet.

Trotzdem solle es jetzt nicht zu Wissenschaftsjournalismus gehen, sondern zu den Experten aus der Umweltepidemiologie. Ganz so unabhängig sind sie nicht wie angenommen, denn sie bekommen ihre Flugkosten, Vortragshonorare und Arbeitsgruppen nicht von der Autoindustrie bezahlt (was man gerade den Ärzten vorwirft), sondern von EU, WHO, BMBF oder UBA (vielleicht kann jemand mal die CO2 Bilanz der WHO Experten recherchieren?).

Und natürlich gibt es auch da ein Gefälligkeitsrecycling: das UBA braucht Positivergebnisse zum Existenznachweis. Was soll das Amt auch mit Negativberichten anfangen? (Das UBA könnte auch mal offen legen, warum es gerade eine bestimmte Arbeitsgruppe fördert). Eine unvoreingenommene Zusammenfassung des Berichtes wäre schliesslich auch gewesen “Es gibt keine erhöhte Mortalität”. WHO, EU und EPA raten davon ab, für NO2 Mortalitätsziffern zu publizieren, warum macht das dann das UBA?

Statt zu deeskalieren, die vielen Fehler des UBA Reports einzuräumen, gehen die Umweltepidemiologen nun  in den Gegenangriff. Sie merken nicht, dass sie damit in einen Skandal schlittern, der dem Epidemiologie Skandal vor 20 Jahren um nichts nach steht. Epidemiologen sind schon immer gern gegen die Toxikologen zu Felde gezogen (im Endeffekt geht die Diskussion ja auch um den Konflikt beider Disziplinen – erinnern wir uns an die Kritik der Affentests).

Die Toxikologie ist das ältere und wissenschaftlich arrivierte Fach, klassische Experimente sind eben schwer zu widerlegen. Und Stickstoffdioxid fällt als Gas eben doch mehr in die Domäne der Toxikologie. Statt sich aber nun um eine integrative Würdigung toxikologischer Positionen zu bemühen, war die Umweltepidemiologie immer schon eine eingeschworene und kritikresistente Fraktion, das zeigt sich jetzt in der Stellungnahme von Nino Künzli

Die Grenzwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beruhen auf der gesamten weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu den Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit. Diese experimentelle und epidemiologische Forschung schlägt sich allein in den letzten 30 Jahren in etwa 70.000 wissenschaftlichen Arbeiten nieder. Diese Literatur wird von großen interdisziplinären Fachgremien regelmäßig neu beurteilt. Die Herren Köhler, Hetzel (zwei der Autoren der Stellungnahme; Anm. d. Red.) und ihre Jünger sucht man in dieser Wissenschaftsgemeinde vergeblich. Sie haben noch nie zu diesem Thema geforscht, weshalb sie auch noch nie in wissenschaftlichen Gremien zu diesen Fragestellungen tätig sein durften. In diesen Gremien wird Sachwissen verlangt. Köhler, Hetzel und Co. verfügen über keinerlei epidemiologische Ausbildung, die sie dazu befähigen würde, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Umweltepidemiologie sachkundig zu beurteilen. Das sogenannte ‚Positionspapier‘ dieser Ärzte entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und argumentativer Kohärenz. Leider fehlt Köhler, Hetzel und Co. nicht nur die Fähigkeit, diese Wissenschaft kritisch zu würdigen, sondern auch die Einsicht über die Grenzen der eigenen Kompetenzen.“

Künzli argumentiert

  • ad personam (“fehlt die Einsicht”)
  • macht sich unanfechtbar (“weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz”)
  • nur seine peer group ist qualifiziert (“von großen interdisziplinären Fachgremien”)
  • welche die Qualifikationen vorgibt (“über keinerlei epidemiologische Ausbildung”)
  • und über Logik entscheidet (“entbehrt argumentativer Kohärenz”)

Irgendwie ist das wohl das genaue Gegenteil von dem was zur Kommunikation bei Krisen geraten wird.
Fakten sehen ich in der Stellungnahme allerdings nur wenige. Unter den polemisch bezeichneten “Jüngern” sind auch viele renommierte Lehrstuhlinhaber und frühere Koautoren von mir. Eine Zahl von 70.000 epidemiologischen Arbeiten zu Langzeiteffekten von NO2 bezweifle ich jedenfalls, oder wird hier jetzt auch alles in einen Topf geworfen? Es geht doch auch nicht um Quantität, sondern um Qualität.

Ich versuche das Problem an einem (weitgehend unpolitischen) Beispiel zu erklären. Zur Assoziation von Vitamin D Spiegel im Blut mit diversen Krankheiten gibt es eine riesige Zahl von Studien. Die genaue Zahl weiss ich nicht, vermutlich aber auch in der Grössenordung von 50.000 Studien. Es gibt so viele Studien, dass es insgesamt 74 Metaanalysen von Beobachtungsstudien und 87 Metaanalysen von randomisierten klinischen Studien erschienen sind. Wer soll das jemals noch überschauen? 2014 ist dann die wohl erste Metaanalyse der Metananalysen erschienen. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich die in Beobachtungsstudien berichteten Effekte nicht in klinischen Studien beweisen lassen. Was auch immer inhaltlich dahinter steht, eines ist unmissverständlich: Qualitativ bessere Studien machen Studien mit geringerer Qualität obsolet.

Die Hierarchie der Evidenzlevel kann man auf Wikipedia nachlesen:

  • Stufe Ia: Wenigstens eine Metaanalyse auf der Basis methodisch hochwertiger randomisierter, kontrollierter Studien
  • Stufe Ib: wenigstens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT
  • Stufe IIa: wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung
  • Stufe IIb: wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs, quasi-experimenteller Studie
  • Stufe III: mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien
  • Stufe IV: Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien
  • Stufe V: Fallserie oder eine oder mehrere Expertenmeinungen

70.000 Studien auf Stufe IV sind also nichts mehr wert, wenn es eine bessere Studie auf Stufe I gibt. Das verstehe ich unter “argumentativer Kohärenz”.

Schauen wir uns also nun den UBA Bericht noch einmal an. Schwierig zu sagen, ob das nun IV oder III ist. Ich entscheide auf IV, da nicht methodisch hochwertig. Schauen wir dann die letzte Studie zu “Background”-NO2 Wert von 40 µg/m3 an. Nach meiner Meinung ist das IIa.

(Die outcomes sind unterschiedlich, eingeräumt, aber es käme auch niemand auf die Idee die Toten in London zu zählen). IIa ist jedenfalls höher als IV, vergessen wir die 40 µg/m3.

Scholar Abfrage “traffic + health effects” 24.1.2019
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