Faktencheck “eventuelle Dunkelziffer”

Christian Drosten meinte gestern auf Twitter an seine 232K Follower über “eine eventuelle Dunkelziffer”: “Hier sollten wir zum gegenwärtigen frühen Zeitpunkt der Epidemie nicht allzuviel erwarten.” Drosten räumt ja sonst immer sympathisch ein, wenn er etwas nicht weiss. Leider macht er das nicht immer bei epidemiologischen Fragen…

Schauen wir uns die Fakten an.

Den Begriff Dunkelziffer gibt es eigentlich nicht in der Epidemiologie, ich vermute der Begriff soll das ascertainment bias oder selection bias beschreiben. Auf Deutsch also etwas, was man nicht weiss. Der Zusatz “eventuell” stellt jedenfalls die “Dunkelziffer” in Frage.

DLF-Wissenschaftsredakteur Volkart Wildermuth hat den Sachstand zusammengefasst

Forscherinnen und Forscher der Columbia Universität kommen in einer Simulation zu dramatischen Dunkelziffern. Sie haben die Ausbreitung des Coronavirus mit einem Pandemie-Simulationsprogramm nachgespielt. Die Daten für ihre Berechnungen stammten aus der frühen Phase der Epidemie in China, als es noch keine Kontaktbeschränkungen gab. Demnach kamen auf jeden nachweislich Infizierten etwa sieben unentdeckte Fälle, schreiben die Autoren im Fachmagazin “Science” […]

Das Robert-Koch-Institut geht zwar ebenfalls von einer Dunkelziffer aus. Präsident Wieler sagte, die gebe es bei jeder Infektionskrankheit. Es gebe aber keinen Anlass, von einer besonders hohen Dunkelziffer auszugehen, weil in Deutschland sehr früh am Anfang der Coronakrise mit Tests begonnen worden sei und generell sehr viel getestet werde. Der RKI-Präsident betonte aber, dass nach aktuellem Stand die Hälfte der Infizierten tatsächlich auch an der Krankheit Covid-19 erkrankt. „Die anderen Hälfte sehen wir gar nicht.“

Die Autoren des Science Artikels vermuten, das 86% aller Infektionen unbekannt blieben, Wieler geht von 50%. Ich gehe nach Hochrechnung auf Landkreisebene über die Ärztedichte ebenfalls von 50% bis 90% aus.

Und von der Bestimmung sei nicht “allzuviel zu erwarten”? Obwohl sie die Basis jedes SEIR Modells ist, mit dem S=susceptible, E=exposed, I=infected, R=recovered berechnet wird? Wenn die Dunkelziffer, einmal angenommen bei 90% liegen sollte, dann würden 83 Millionen Deutschen im Augenblick nicht 100.000 Infizierten gegenüber stehen, sondern 1 Million. Ein gewaltiger Unterschied, der eine völlig andere Einschätzung bedeuten würde (die Hotspot Rechnungen in Bergamo und New York sind nochmal eine ganze andere Frage – die meisten Experten gehen hier von self-enforcing loops und tipping points aus).

Es ist zudem wenig hilfreich, den Wert von epidemiologischen Studien zu bezweifeln, wo es immer große Anstrengungen kostet, Teilnehmer von Studien zu überzeugen. Und was meint Drosten mit frühem Zeitpunkt der Pandemie? In Deutschland trat der erste Fall am 28.1. auf, Wieler sagte am 27.2. die Deutschen sollten zu Hause bleiben, Kekulé am 17.3. dass wir die exponentielle Phase erreicht haben. Gestern war der 8.4. also mehr als drei Wochen nach Beginn der exponentiellen Phase? Oder geht Drosten von einem mehrjährigen Verlauf aus?

Fazit: Es gibt eine Dunkelziffer, die nach aktueller Schätzung mindestens bei 50%, eher Richtung 90% liegt. Da die Verläufe in den einzelnen Landkreisen sehr unterschiedlich sind, brauchen wir repräsentative Bevölkerungsstudien in allen Altersgruppen.

Der Blindflug geht also weiter.

PS. Noch zwei Plots zur Dunkelziffer von Viruserkrankungen bei Kindern. Kinder werden aktuell kaum getestet, weder on demand noch bei der extra angelegten Studie in München. Wie wird man die Schulöffnung nach den Osterferien begründen? Bauchgefühl? Druck aus der Wirtschaft? Und woran wird man merken, dass die Schulöffnung doch zu früh kam ( so wie in St Louis 1917  )?

Quelle RKI abgerufen am 9.4.2020 Lagebericht 8.4.2020, S.4. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-08-de.pdf?__blob=publicationFile Kinder werden bisher kaum getestet, obwohl sie am ehesten asymptomatische Virusträger sind.

Die Gruppe Kinder bis 14 Jahre ist bei sonstigen Viruserkrankungen immer am häufigsten betroffen. Sollte COVID-19 sich so viel anders ausbreiten?

Quelle RKI abgerufen am 9.4.2020 Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2017/18 2017, S. 28, https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2017.pdf KInder im Alter 5-14 Jahre haben die höchste Rate an positiven Influenza Tests.

Die bayrische Staatsregierung äussert sich jedenfalls euphorisch zu der mit Polizeischutz durchgeführten und von Mercedes gesponsorten Studie aus “gebündelter wissenschaftlicher Kompetenz” (Söder).

PS. 14% sind angeblich immun in Gangelt laut der gerade gelaufenen Pressekonferenz (ich hoffe der Antikörper von Streeck ist spezifisch) während wir bisher von 0,5% in dem Landkreis ausgingen.  Der Link zu dem Report war  auf land.nrw ist leider tot.