„Staatsräson“ nicht ausdrücklich im Grundgesetz, wenn er doch angeblich das oberste Interesse oder Prinzip beschreibt, nach dem ein Staat handelt, um sein Bestehen, seine Ordnung und seine Sicherheit zu wahren?
– Ursprünglich wurde der Begriff in der Frühneuzeit geprägt, etwa durch Niccolò Machiavelli und später Giovanni Botero oder Richelieu.
– Er diente zur Legitimation staatlicher Machtpolitik, oft losgelöst von ethischen oder rechtlichen Maßstäben.
– In der Moderne ist er normativ begrenzt – d. h. im demokratischen Rechtsstaat muss Staatsräson mit Recht, Moral und Verfassung vereinbar sein.
Also ist Staatsräson das, was ein Staat für unbedingt notwendig hält, um sich selbst zu schützen und zu erhalten. Müsste in das nicht doch in das Grundgesetz?
Das Grundgesetz ist eine rechtsstaatliche Verfassung – kein Machtinstrument. Das Grundgesetz von 1949 wurde bewusst als Gegenentwurf zur NS-Diktatur geschaffen. Es soll:
– Macht begrenzen, nicht rechtfertigen,
– die Grundrechte des Einzelnen schützen, und
– Recht und Moral über staatliche Interessen stellen.
Ein Begriff wie „Staatsräson“, der traditionell die Zwecke des Staates über Recht und Moral stellt, passt nicht zu einer rechtsstaatlichen, demokratischen Verfassung wie dem Grundgesetz.
Staatsräson ist also ein politischer, kein juristischer Begriff?
Der Begriff wird in der Praxis verwendet, um politische Grundentscheidungen zu beschreiben – zum Beispiel: „Die Sicherheit Israels ist Teil der deutschen Staatsräson.“
Das ist eine moralisch-politische Selbstverpflichtung, aber kein justiziabler oder einklagbarer Verfassungsgrundsatz. Die Werte, aus denen sich Staatsräson ableitet, stehen im Grundgesetz
Auch wenn der Begriff selbst fehlt, finden sich die Grundlagen dafür sehr wohl im Grundgesetz:
– Artikel 1 GG – Menschenwürde
– Artikel 20 GG – demokratischer und sozialer Rechtsstaat
– Artikel 26 GG – Friedensgebot
– Artikel 24 GG – Einbindung in Ordnungssysteme
Die Vorstellung, dass Deutschland Verantwortung trägt – etwa für Israel oder den Frieden – ergibt sich indirekt aus diesen Normen und der historischen Erfahrung (Holocaust, Krieg, Diktatur). Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten jede Form von Machtpolitik, Ideologie oder Staatswillkür vermeiden, die mit „Staatsräson“ früher oft begründet wurde. Der Begriff Staatsräson ist zu unbestimmt, zu machtpolitisch und zu wenig rechtsstaatlich, um im Grundgesetz zu stehen – obwohl sich sein Inhalt aus den Werten und der Geschichte Deutschlands ableiten lässt.
Ist die Staatsräson also verfassungsfeindlich?
Die kurze Antwort lautet: Nein, Staatsräson ist nicht grundsätzlich verfassungsfeindlich – aber sie kann es sein, wenn sie gegen die Prinzipien des Grundgesetzes verstößt. Ein Verhalten oder Konzept ist verfassungsfeindlich, wenn es die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die in der Verfassung festgelegten Prinzipien untergräbt oder beseitigen will – etwa:
– Abschaffung der Menschenwürde
– Einschränkung demokratischer Teilhabe
– Ablehnung der Gewaltenteilung
– Aushebelung des Rechtsstaats
Es gibt also unterschiedliche Lesarten von Staatsräson?
Ja – zu einen die autoritär-machtpolitisch (klassische) Form. Diese Form der Staatsräson – etwa bei Machiavelli oder in Diktaturen – stellt den Erhalt der Staatsmacht über Recht und Moral. Beispiele:
– Staatsgeheimnisse über Aufklärung
– Unterdrückung von Opposition zur Sicherung des Staates
– Notstandsbefugnisse ohne Rechtsbindung
Diese Art von Staatsräson kann durchaus verfassungsfeindlich sein, weil sie die Grundrechte und Prinzipien des Rechtsstaats unterordnen oder ignorieren will.
Dann gibt es auch die verfassungstreue und wertebasierte moderne Auslegung von Staatsräson. In Demokratien wie Deutschland wird Staatsräson heute meist verstanden als: Der Staat schützt das, was ihn im Innersten zusammenhält, z. B. Menschenwürde, Demokratie, historische Verantwortung (z. B. gegenüber Israel).
– auf die Verfassung bezogen
– rechtsstaatlich begrenzt
– und durch demokratische Kontrolle legitimiert
Diese moderne Staatsräson ist nicht verfassungsfeindlich, sondern soll Verfassung und Staat schützen, nicht über sie herrschen. Wenn die deutsche Politik sagt: „Die Sicherheit Israels ist Teil unserer Staatsräson“ dann ist das kein Bruch, sondern eine Erweiterung der historischen und moralischen Verantwortung, die sich aus Artikel 1 GG (Menschenwürde) und der NS-Vergangenheit ergibt.
Könnte die Erweiterung nicht doch verfassungsfeindlich sein, wenn sie etwa durch Waffen die Bestrebungen Israels zur Landnahme oder Einschrämkung des demokratischen Rechtsstaates unterstützt?
Ganz klar, ja. Wenn die deutsche Staatsräson in ihrer Umsetzung politische Maßnahmen unterstützt, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind – z. B. völkerrechtswidrige Besatzung, systematische Diskriminierung oder Einschränkung rechtsstaatlicher Prinzipien –, dann kann das Widersprüche zur Verfassung erzeugen. Deutschland bekennt sich zur „Sicherheit Israels als Teil der Staatsräson“ – aber gleichzeitig gilt:
– Die israelische Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten (z. B. Westjordanland) wird völkerrechtlich von Deutschland (und der EU) als illegal eingestuft.
– Internationale Menschenrechtsberichte werfen Israel regelmäßig Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht vor, etwa im Gaza-Konflikt.
– Israel durchläuft laut vielen Beobachtern eine zunehmende Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien (z. B. durch die Justizreform 2023–2024).
Wenn deutsche Politik in der Praxis:
– einseitig bestimmte israelische Maßnahmen unterstützt,
– oder kritiklos toleriert, obwohl sie gegen Völkerrecht oder Menschenrechte verstoßen, dann steht das potenziell im Widerspruch zu Artikel 1 (Menschenwürde), Artikel 20 (Rechtsstaatlichkeit) und Artikel 25 (Völkerrecht) des Grundgesetzes.
Im Zweifel gilt: Die Verfassung steht über der Staatsräson, nicht umgekehrt. Eine unkritische oder einseitige Ausweitung der Staatsräson kann verfassungswidrig werden, wenn sie gegen Grundrechte, Völkerrecht oder demokratische Prinzipien verstößt.
Was sagen Juristen dazu?
Der israelisch-deutscher Völkerrechtler Mann sah Israels Krieg nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 als berechtigte Reaktion. Es sei eine traurige Ironie, sagt Itamar Mann, dass er hier, auf deutschem Boden, neuerdings auch als deutscher Staatsbürger, einmal diesen Satz aussprechen würde: »Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass Israel in Gaza einen Genozid begeht.« Es sei ein schmerzlicher Satz, sagt er, für ihn, der Israel liebe, den Ort, an dem er aufgewachsen sei.