Mai Thi Nguyen-Kim – laut dem Kommunikationsdienst der Medienbranche Turi2 Deutschlands bekannteste Wissenschaftsjournalistin – brachte in der Vergangenheit immer wieder spannende Videos. Allerdings hat sie sich bei dem Thema Genetik überhoben und ist offensichtlich auch nicht gut in der Wissenschaftsszene vernetzt. Anders sind ihre Aussagen zur Genetik jedenfalls nicht zu erklären.
Ihr Zweifel an dem Rassenbegriff ist ja völlig berechtigt, denn nur Rassisten reden von Rassen. Wir reden schon lange nicht mehr von Rassen bei Menschen, sondern von Populationen, Volksgruppen, Ethnien oder was auch immer (Rassen sind ansonsten die gezielt gezüchtete Tier- oder Pflanzenarten, die sich durch Selektion auf bestimmte Eigenschaften vermehrt haben). Wir reden deshalb nicht mehr davon, weil die Anfang des letzten Jahrhunderts von Anthropologen beschriebenen äusseren Merkmale von Menschen eben nicht mit den Ergebnissen der modernen Genetik überein stimmen. Aber statt dann wenigstens bei dem Thema Populationsgenetik in ihrem Video zu bleiben, zieht sie auch noch eine direkte Linie zum Kolonialismus. Und stellt dann auch noch eine Verbindung zur Kriminalstatistik her. Das ist unseriös und nur der Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet..
Seit Wochen habe ich das Transkript hier liegen und kommentiere es nun mit Referenz auf Mathew Hamilton, Ochoa & Storey, Beaumont sowie Holsinger & Weir.
Fangen wir also an.
4:23- 4:31 In jedem Dorf finde ich mehr genetische Vielfalt, als es Gruppenunterschiede zwischen Kontinenten gibt.
Mai Thi argumentiert hier mit FST – einem statistischen Parameter für die genetische Differenzierung zwischen Populationen. Er beschreibt, wie stark die Allelfrequenzen (also die Häufigkeiten genetischer Varianten) zwischen Gruppen voneinander abweichen, relativ zur Variation innerhalb der Gruppen. FST = 0 steht für vollständige Mischung (keine Gruppenunterschiede) und FST = 1 für vollständigeTrennung. Typische Werte beim Menschen innerhalb einer Region sind FST ≈ 0.001–0.005, zwischen europäischen Ländern FST ≈ 0.01 und zwischen Kontinenten (Afrika, Europa, Ostasien) FST ≈ 0.05–0.10.
Das heisst also, daß 90 % der gesamten genetischen Variation sich innerhalb von Ländergrenzen findet und nur etwa 10 % zwischen Kontinenten. Soweit so richtig und soweit so gut. Dass jedes Dorf damit aber buchstäblich mehr Variation aufweist als der kontinentale Vergleich, ist dann aber doch nicht richtig. FST beschreibt durchschnittliche Varianzverhältnisse, nicht die konkrete „Vielfalt in jedem Dorf“. Genetische Unterschiede bei H. sapiens sind überhaupt extrem klein. Dazu kommt, daß wenn man nur kleine Gruppen (z. B. ein Dorf mit 50 Personen) vergleicht, der genetische Drift zufällige Unterschiede oft stärker hervortreten lässt. Deshalb definiert man auch in der Populationsgenetik statistisch hinreichend große Einheiten (z. B. Regionen mit mehreren Hundert bis Tausend Personen) und nicht kleine Dörfer. FST wird im übrigen stark von häufigen Allelen dominiert. Und ein global niedriger FST Wert täuscht darüber hinweg, dass einzelne funktionelle Varianten mit großer Auswirkung sehr zwischen Populationen differieren können. FST sagt nichts darüber aus, ob der Genotyp ( die Gen Eigenschaft ) mit einem konkreten äußeren Merkmal ( dem Phänotyp ) zusammenhängt.
Mai Thi fragt, ob es „biologisch klar abgrenzbare Gruppen“ innerhalb H. sapiens gibt. Nein, natürlich nicht, wenn man FST Werte ansieht, da gibt es keine klar trennbaren genetische Gruppen – Nietzsche, Lenz, Sloterdijk und Musk zum Trotz. Menschlichen Genvariationen bilden ein Kontinuum ohne Blockbildung. Auffällige Merkmale wie Hautfarbe oder Laktoseverträglichkeit beruhen auf einzelnen Genen oder Gengruppen, die sich regional angepasst haben. Sie sagen aber nichts über die Gesamtverwandtschaft aus. Menschen mit ähnlicher Hautfarbe können genetisch weiter voneinander entfernt sein, als Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, das stimmt. Solche Merkmale sind regionale Umweltanpassungen, keine Rassenmerkmale.
Statistische Parameter wie FST sagen aber nichts über Verhalten oder Kriminalität aus. Allein schon diese Verbindung in dem Video ist abwegig. Genetik erklärt keine soziale oder kulturelle Phänomene. Biologische und soziologische Aspekte sollten immer strikt getrennt betrachtet werden. Ein interdisziplinäres Ansatz ist nur sinnvoll, wenn die Begriffe von Natur und Kultur nicht unreflektiert vermischt werden – eine gemeinsame Diskussion im gleichen Rahmen ist höchst problematisch.
Es sind die vielen kleinen, wenn auch populären Ungenauigkeiten die das Video so unwissenschaftlich machen, etwa die Aussage, daß sich vor 100.000 Jahren H. sapiens in verschiedenen Wellen von Afrika aus über die Welt verteilt habe. In Wirklichkeit zeigen genetische Daten ständige Wanderungen. Die menschliche Populationsentwicklung ist kontinuierlich, es gibt keine getrennten evolutionäre Linien. Nach moderner Populationsgenetik gehören alle Menschen zu einer genetisch gemischten, kontinuierlichen Population. Biologische „Rassen“ gibt es nicht – nur soziale Konstruktionen.
Das Video ist im Grundtenor zwar antirassistisch und gut gemeint, aber biologisch häufig unpräzise und in der selektiven Darstellung dann letzlich unrichtig. Denn unabhängig von FST kann man natürlich auch über bestimmte Allelkombinationen individuelle geographische Herkunft rekonstruieren (Stichwort 23andme), man wird immer genetische Unterschiede zwischen Populationen finden (Stichwort Laktoseintoleranz) und nicht zuletzt auch unzählige Krankheitsdispositionen ermitteln können. In der genetischen Epidemiologie hat man diese “founder” oder “isolate”-Populationen auch direkt für Studien gesucht – Island, Finnland, Amish, Ashkenazi, Sardinien, usw. Das alles aber unterschlägt Mai Thi in dem Video.
Die Vernachlässigung unterschiedlicher Populationsgruppen – die sich teils deutlich im Sozialverhalten unterscheiden – und die ausschließliche Betrachtung des globalen FST Wertes konterkariert damit die eigentliche Intention des Videos.
Postskript
Ian Holmes hat im übrigen bereits 2018 einen interessanten Artikel dazu geschrieben “What Happens When Geneticists Talk Sloppily About Race” der den Kern trifft.
Due to concerns of political correctness, [David Reich] argued, scientists are unwilling to do research on – or, in some cases, even discuss – genetic variation between human populations, despite the fact that genetic variations do exist.