Peter Liptons Hauptwerk “Inference to the Best Explanation” (IBE) ist leider nie auf Deutsch erschienen. Ich habe den Text daher von Gemini zusammenfassen lassen, überarbeitet und werde ihn auch in den nächster Wochen noch weiter ergänzen. Lipton ist einer meiner Lieblingsphilosophen. Er hat das Buch 1991 in erster und dann 2004 in zweiter Auflage veröffentlicht. Es ist ein Meilenstein in der modernen Wissenschaftstheorie und bietet eine detaillierte Analyse einer spezifischen Form des wissenschaftlichen aber auch alltäglichen Schließens: wie funktioniert am besten der Schluss auf die beste Erklärung? Lipton argumentiert, dass IBE ein fundamentales und weit verbreitetes Muster des induktiven Schließens ist, das weder durch das hypothetiko-deduktive Modell (H-D), noch durch rein probabilistische Ansätze wie den Bayesianismus vollständig erfasst wird. Das Buch zielt darauf ab, IBE als eigenständige und plausible Form der Inferenz zu etablieren und seine Funktionsweise sowie seine philosophischen Implikationen zu beleuchten. Das Kernkonzept: Was ist der Schluss auf die beste Erklärung?
Im Kern besagt IBE, dass wir angesichts bestimmter Beobachtungen oder Daten (Evidenz E) auf diejenige Hypothese (H) schließen sollten, die diese Evidenz am besten erklärt. Lipton betont, dass es hierbei nicht nur darum geht, eine mögliche Erklärung zu finden, sondern die beste aus einem Pool konkurrierender potenzieller Erklärungen auszuwählen.
Ein zentrales Element in Liptons Analyse ist die Unterscheidung zwischen potenziellen Erklärungen und der tatsächlichen Erklärung. Eine Hypothese ist eine potenzielle Erklärung für E, wenn sie, wäre sie wahr, E erklären würde. IBE ist der Prozess, aus der Menge der potenziellen Erklärungen diejenige auszuwählen, die am wahrscheinlichsten die tatsächliche Erklärung ist.
“Loveliness” vs. “Likeliness”
Liptons originellster Beitrag ist wohl die Unterscheidung zwischen der “Loveliness” (der eAttraktivität) einer Erklärung und ihrer “Likeliness” (die Wahrscheinlichkeit, wahr zu sein).
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Loveliness: Bezieht sich auf die intrinsischen explanatorischen Tugenden einer Hypothese. Dies sind die Eigenschaften, die eine Hypothese zu einer guten Erklärung machen, unabhängig davon, ob sie wahr ist. Dazu gehören Kriterien wie:
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Umfang (Scope): Wie viel erklärt die Hypothese?
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Präzision (Precision): Wie detailliert ist die Erklärung?
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Mechanismus (Mechanism): Bietet die Hypothese einen plausiblen Mechanismus für das Zustandekommen der Evidenz?
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Vereinheitlichung (Unification): Kann die Hypothese verschiedene, bisher unverbundene Phänomene unter einem Dach erklären?
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Einfachheit (Simplicity): Ist die Hypothese ontologisch oder theoretisch sparsam?
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Likeliness: Bezieht sich auf die (epistemische) Wahrscheinlichkeit, dass die Hypothese tatsächlich wahr ist.
Liptons zentrale These ist, dass wir im IBE-Prozess von der “Loveliness” auf die “Likeliness” schließen. Wir wählen diejenige Hypothese als die wahrscheinlichste (likeliest) aus, die die beste (loveliest) Erklärung für die Daten bietet. Die explanatorischen Tugenden fungieren also als unsere epistemischen Wegweiser zur Wahrheit. Dies ist ein entscheidender Punkt, da er eine Verbindung zwischen explanatorischer Qualität und epistemischer Rechtfertigung herstellt. Vor allem in der zweiten Auflage versucht Lipton stärker zu zeigen, dass die „liebste“ Erklärung auch die wahrscheinlichste ist, und begründet, warum das Schließen auf die beste Erklärung nicht nur psychologisch plausibel, sondern auch epistemisch zuverlässig ist.
Abgrenzung zu anderen Inferenzmodellen
Lipton positioniert IBE als überlegene oder zumindest ergänzende Alternative zu anderen prominenten Modellen wissenschaftlicher Inferenz:
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Hypothetiko-Deduktivismus (H-D): Das H-D-Modell besagt grob, dass eine Hypothese durch ihre erfolgreichen Vorhersagen bestätigt wird. Lipton argumentiert, dass H-D mehrere Probleme hat, die IBE besser löst:
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Hypothesengenerierung: H-D sagt wenig darüber, wie Hypothesen überhaupt entstehen. IBE kann erklären, warum bestimmte Hypothesen überhaupt erst in Betracht gezogen werden (weil sie potenziell gute Erklärungen sind).
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Unterdeterminierung: Oft können mehrere Hypothesen dieselbe Evidenz vorhersagen. H-D hat Schwierigkeiten zu erklären, warum wir eine dieser Hypothesen bevorzugen. IBE bietet hierfür Kriterien: Wir wählen diejenige, die die Evidenz besser erklärt (also “lovelier” ist).
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Erklärung vs. Vorhersage: IBE stellt die Erklärung ins Zentrum, was laut Lipton dem tatsächlichen wissenschaftlichen Denken oft näherkommt als der reine Fokus auf Vorhersagebestätigung.
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Bayesianismus: Der Bayesianismus modelliert rationale Glaubensänderung mittels Wahrscheinlichkeitstheorie. Lipton sieht IBE nicht notwendigerweise als Konkurrenz, sondern eher als eine Ergänzung oder Konkretisierung des Bayesianismus. IBE kann helfen zu verstehen, warum bestimmte Hypothesen höhere A-priori-Wahrscheinlichkeiten haben (sie scheinen bessere potenzielle Erklärungen zu sein) oder warum bestimmte Evidenz die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese stärker erhöht als die einer anderen (weil die erste die Evidenz besser erklärt). IBE liefert die “inhaltliche Füllung” für die formalen probabilistischen Berechnungen.
Weitere Themen
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Erklärung und Kausalität: Lipton vertritt eine kausale Auffassung von Erklärung. Oft ist die beste Erklärung diejenige, die die kausalen Ursachen des Phänomens identifiziert. IBE ist somit eng mit der Suche nach kausalen Zusammenhängen verbunden.
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Kontrastive Erklärung: Lipton analysiert auch, wie Erklärungen oft auf impliziten oder expliziten Kontrasten beruhen (Warum P statt Q?). Die beste Erklärung erklärt oft nicht nur, warum P der Fall ist, sondern auch, warum stattdessen nicht Q der Fall ist.
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Deskriptive vs. normative Angemessenheit: Lipton argumentiert, dass IBE nicht nur beschreibt, wie Wissenschaftler (und Laien) tatsächlich oft schließen (deskriptive Adäquatheit), sondern dass es auch eine rational gerechtfertigte Form des Schließens darstellt (normative Adäquatheit).
Herausforderungen und Liptons Antworten
Lipton ist sich der Herausforderungen für IBE bewusst und diskutiert sie:
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Unsicherheit des „Best of” Kriteriums: Die Kriterien für “Loveliness” (Einfachheit, Umfang etc.) sind oft vage und ihre Gewichtung unklar. Lipton räumt dies ein, argumentiert aber, dass dies die Praxis von IBE nicht prinzipiell untergräbt, sondern eher auf die Komplexität des Urteilens hinweist.
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Das “Bad Lot”-Argument (Argument der schlechten Auswahl): IBE wählt nur die beste Erklärung aus dem Pool der betrachteten Hypothesen. Was aber, wenn die wahre Erklärung gar nicht in diesem Pool enthalten ist? Lipton konzediert, dass IBE keine Garantie für Wahrheit bietet. Es ist fehlbar, aber dennoch unser bestes verfügbares Werkzeug für induktive Schlüsse in vielen Kontexten.
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Die Verbindung von Loveliness und Likeliness: Dies ist die tiefste philosophische Herausforderung. Warum sollten explanatorische Tugenden (wie Einfachheit oder Kohärenz) ein Indikator für Wahrheit sein? Warum sollte das Universum so beschaffen sein, dass die “schönsten” Erklärungen auch die wahren sind? Lipton versucht, diese Verbindung zu rechtfertigen, indem er argumentiert, dass unsere explanatorischen Präferenzen durch den Erfolg in der Vergangenheit geformt und gerechtfertigt sind. Die Suche nach den “besten” Erklärungen hat sich als erfolgreiche Strategie erwiesen, um zu wahren oder zumindest empirisch adäquaten Theorien zu gelangen.
Schlussfolgerung
Peter Liptons Inference to the Best Explanation (1991) ist eine tiefgründige und nuancierte Verteidigung von IBE als zentralem Modus wissenschaftlicher und alltäglicher Inferenz. Durch die Betonung der Qualität der Erklärung und die Einführung der Unterscheidung zwischen “Loveliness” und “Likeliness” bietet Lipton ein reichhaltiges Modell, das wohl besser als konkurrierende Ansätze die tatsächliche wissenschaftliche Praxis und die Rolle von explanatorischen Tugenden bei der Theorienwahl zu erfassen scheint. Obwohl Herausforderungen bleiben, insbesondere bezüglich der Rechtfertigung der Verbindung zwischen explanatorischer Güte und Wahrheit, hat Liptons Arbeit die Debatte über wissenschaftliches Schließen maßgeblich geprägt und IBE als ernstzunehmende Position in der Wissenschaftstheorie fest etabliert.