Forschung in verantwortungsethischer Perspektive

Am 12. und 13. Januar 2018 fand in der evangelischen Akademie Loccum ein Symposium zur Forschungsethik statt. Trotz des sperrigen Titels, die Ankündigung war spannend:

Wie finden wir in den Lebenswissenschaften wieder zu einer kühneren Forschungskultur, die gleichzeitig stärker verantwortungsbasiert arbeitet? Diese Frage steht deshalb im Zentrum der Tagung, weil heute ein hoher Leistungs- und Produktivitätsdruck die Forschung belastet und damit Qualitätsprobleme provoziert. Das hat zu einem dramatischen Seriositätsverlust in der Erarbeitung, Bewertung und Darstellung von Forschungsergebnissen geführt.
Während der Tagung wird nach Wegen gesucht, diesem Missstand wirkungsvoll entgegen zu treten: Wissenschaftler mit langjähriger Forschungserfahrung, wissenschaftlicher Nachwuchs, Experten entsprechender Bereichsethiken und hochschulpolitische Administrationen sind gefragt.
Welche Herausforderungen drohen die Erzielung verlässlicher Forschungsergebnisse zu verhindern? Welche zentralen Eckdaten kennzeichnen eine produktive Forschungskultur? Welche forschungsethischen und forschungsrechtlichen Rahmenbedingungen sind von Belang? Wie kommen hier Digitalisierung, Big Data und Verfahren wie die Bibliometrie ins Spiel?
Vor diesem Hintergrund: Wie kann es gelingen, angemessene Freiräume für forschende Kreativität mit Mut zum Risiko zu stärken? Wie kann Originalität und Nachhaltigkeit von Forschung gegenüber purer Publikations- und Zitationsindikatorik anerkannt werden? Was können die Hochschulleitungen und die Wissenschaftspolitik zur Unterstützung innovativer und zugleich seriöser Forschung tun?
Der Fokus wird nach einer grundsätzlichen Sichtung der Problemlagen auf den Lebenswissenschaften, insbesondere auf den medizinischen Fächern liegen. Ein generationen­übergreifender Austausch zwischen arrivierter Forschung und wissenschaftlichem Nachwuchs ist ausdrücklich erwünscht!

Hier ist mein Mitschrieb ohne Gewähr, solange es kein offizielles Protokoll gibt. Eröffnet wurde die Tagung von Henrike Hartmann (Volkswagen Stiftung) sowie Stephan Schaede (Akademie Loccum).

Henrike Hartmann, VolkswagenStiftung

Stephan Schaede, Akademie Loccum

Wir müssen wieder Verantwortung für *redliche* Wissenschaft übernehmen, so Hartmann, und nicht nur für eine elitäre Wissenschaft der Exzellenz und der Leuchttürme. Denn Wissenschaft hat massiv Vertrauen verloren. Bevor man den Elfenbeinturm der Wissenschaft aber öffnet, gehört er erst einmal gründlich aufgeräumt. Und zwar
1. mit dem Publikationsdruck des publish or perish
2. den Problemen mit der Reproduzierbarkeit: jedes falsche Ergebnis schadet massiv
3. der Kommunikation, die zu oft mit Werbung verwechselt wird. Wir brauchen keine PR und keine Anwendung-Nutzen-Rhetorik.
4. Dazu sollten wir weg von der Erfolgsfixierung. Brauchen wir mehr staatliche Kontrolle? Bestimmt nicht, aber alle Akteure sollten ihre genuine Verantwortung wahrnehmen. Die Forschungsförderung muss dafür die richtigen Anreize setzen.
Im intersdisziplinären Austausch sollte dies auch „ohne Nervensägen“ gelingen, so Schaede.

Alena Buyx, Christian Albrechts Universität Kiel

Alena Buyx (“Digitalisierung und Big Data – Chancen und Gefährdungen der Seriosität von Forschung”) stellt die wichtigsten Pfeiler aus der neuen Stellungnahme des Ethikrates vor („Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung“). Datenschutz ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz der Person. Datenschutz ist dabei nicht das höchste Ziel da man dabei auch Chancen verpassen kann. Solche Chancen eines verantwortlichen Umgangs mit Daten im Gesundheitsbereich bestehen darin, Daten zum Wohl von Patienten zu nutzen.  Korrelationen sind nicht mit Kausalitäten gleich zu setzen auch wenn Big data Analysen eine schnellere Hypothesenbildung erlauben. Risiken sind eine Verletzung der Selbstbestimmung, aber auch die Selbstgefährdung durch Datenpreisgabe ist nicht zu unterschätzen. Die aktuelle Datenmonopolisierung machen dringend neue Konzepte der Governance notwendig, in dem die Datensouveränität wieder die entscheidende Rolle zukommt. Wer dabei die Verantwortung trägt? Eine Multiakteursverantwortung wird auch von juristischer Seite aus kritisch diskutiert.

Andreas Spickhoff, LMU München

Spickhoff (“Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsbewertung – Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaftssteuerng durch Anreizsysteme”) befasst sich mit den unterschiedlichen Fächerkulturen, da die “Drittmitelträchtigkeit”mittlerweile den Stellenwert der Fakultäten in der Volluniversität beschreibt. Dabei macht es für den Juristen wenig Sinn, fünf weitere Doktoranden einzustellen, die dann nicht mehr betreut werden können. Kernsatz: Drittmittel sind Mittel zum Zweck und nicht umgekehrt. Drittmittel beschneiden zudem die Forschungsfreiheit, denn durch das festgelegte Programm und die regelmässigen Reports wird die Forschungsfreiheit messbar eingeschränkt zumal wenn auch noch Ergebnisse im Rahmen des Programms zu präsentieren sind. Ergebnisse eines Wissenschaftler zu bewerten, als “ernsthafter Versuch zur Ermittlung der Wahrheit” ist unzulässig, sofern es nicht um eine direkte Verletzung von Dienstpflichten geht.  In der juristischen Fakultät gibt es kein Zeitschriftenranking, ersatzweise werden hier Zeichenzahlen gemessen (“inklusive Leerzeichen”) obwohl es kaum belastbare Kriterien der Wissenschaftsbewertung gibt. Bei den Exzellenzinitiativen ist zu bedenken, dass eine Übertreibung der eigenen Leistung als Subventionsbetrug gewertet werden kann.

Christoph Markschies, FU Berlin

Der ehemalige Präsident der FU Berlin und jetzige Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft ging  die Hindernisse verantwortlicher Forschung  über vier Punkte an: Qualifikation, Information, Themenfindung und Öffentlichkeit.  Wo die Verantwortungsethik heute steht? Man kommt dabei an Max Weber (Wissenschaft als Beruf, 1917) und Hans Jonas (Prinzip Verantwortung, 1979) nicht vorbei.  Markschies führt dazu das “präthematische Bewusstsein” ein, Forschungsethik als Gewissensbildung. Der Dualismus zwischen Gesinnung und Verantwortung ist dabei umstritten. Historiker sind die rückwärtsgewandten Praktiker; ansonsten ist Wissenschaft inspiriertes Rätselraten für die Zukunft ( nach Nicholas Reschers Grenzen der Wissenschaft). Entscheidend ist die Informationsbasis. Es gibt keine Gewissheit, so Strohschneider in seinem Halle 2017 Vortrag. Wir leben in einer Zeit der neuen Unübersichtlichkeit (Habermas).  Womöglich in einer Scientokratie? Der Pluralismus ist nur beherrschbar durch das Bewusstsein für die Einheit der Wissenschaft. Franco Morettis “Distant Reading” zeigt dabei, dass die Strategien der genauen Lektüre nicht mehr funktionieren. Ob dies nun zur thematischen Risikoarmut führt? Großforschung wird jedenfalls immer risikoärmer, wenn nur noch “mainstream” Themen” und “umbrella terms” produziert werden. Open science könnte ein Wandel sein, die selbstbewusste Einforderung von Qualität nach Jahren des Vertrauensverlustes mit Boulevardisierung von Wissenschaft, zuviel Bologna und zuwenig curricularer Entwicklung.

Stefan Hornbostel, DZHW Hannover

Stefan Hornbostel (“Vom Elend und großen Nutzen der Bibliometrie”) ging auf die Handlungsfolgen in einer komplexen Umwelt ein, beginnend mit der negativen Wahrnehmung aus der NS Zeit bis hin zu den Mertonschen CUDOS Prinzipien

“Communitarianism”: Wissenschaft als Produkt kooperativer Anstrengung
“Universalism”: Bewertung wissenschaftlicher Forschung unabhängig von der Person
“Disinterestedness”: Antriebsfeder neue Erkenntnis, Neugier, altruistisches Interesse
“Organized Scepticism”: Abschließendes Urteil erst mit alle nötigen Fakten

Intern gibt es zwar den Anspruch auf Selbstregulierung. Extern aber gibt es eine Steuerung durch Forschungsförderung, die dann eine Kaskade in Gang setzt -> Leistungsdruck -> Publikationsdruck -> Bibliometrie ->Forschungsförderung und Rankings ohne Ende. Dabei ist die Bibliometrie nach Ansicht von Hornbostel nur dazu geeignet, auf aggregiertem Level den wissenshaftlichen Output zu vergleichen, etwa auf Länder- oder Universitätsebene. Der Impact Factor ist auf Individualebene wenig aussagekräftig.

Impact factor und Peer Review

Retractions (Rücknahme von Veröffentlichungen) nehmen dabei zu und immer mehr zeigen sich die Grenzen der Reproduzierbarkeit zu sich auch in der neuesten DZHW Wissenschaftlerbefragung 2016 spiegelt.

Sabine Maasen, TU München

Maasen (“Forschen und Publizieren in der digitalisierten Welt”) thematisierte die Digitalisierung des Wissen in der Produktion, in der Dissemination, in der Rezeption und in der Bewertung. Der gegenwärtige Umbruch ist nicht trivial, es geht um das Ganze: nicht weniger als das Aushandeln eines neuen Vertrages zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Auch Maasen bringt die CUDOS Prinzipien, wir reden hier auch nichtüber lineare, sondern hybride Modelle. Der Ruf nach responsiver Wissenschaft und mehr Verantwortung der Wissenschaftler wird dabei immer lauter.

Wilhelm Krull, VolkswagenStiftung bei der Moderation
Ulrich Dirnagl, Charité Berlin

Ulrich Dirnagel (“Reformierung des Anreiz- und Belohnungssystems der akademischen Biomedizin – Schlüssel zu größerer Robustheit und mehr Werthaltigkeit”) findet, dass wir uns über chinesische Praktiken der Vergütung eines Nature Artikels aufregen, aber gleichzeitig Autoren hochkarätiger Artikel noch viel mehr bezahlen, nämlich eine Lebensstellung.  Moher et al.  PLoS Biol in press haben recht wenn sie sagen : “A burgeoning number of scientific leaders believe the current system of faculty incentives and rewards is misaligned”. Nicht mehr der Erkenntnisgewinn, sondern die Publikationen an sich, haben mittlerweile Wert bekommen.
Aber was können wir tun? Drei Akademien in Deutschland kommen zu demselben Schluss: Fehlanreize abbauen, weniger Evaluierung und informed peer Review einführen. Es ist ein Risiko, aber einer muss endlich damit anfangen, denn sonst läuft uns der Nachwuchs weg, Deutschland ist in vielen Bereichen bereits unteres Mittelfeld. Die Gründung des BIH Quest Center Berlin kann dabei ein Anfang sein.

Axel Haverich, MHH Hannover

Haverich, Herzchirurg aus Hannover (“Sorge um eine hohe Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen von Forschungsergebnissen – Anmerkung aus der wissenschaftlichen Leitungsebene”) stellt eindrücklich die Probleme vieler randomisierter klinischer Studien vor: falsche Zeitpunkte, selektive Patientenwahl und finanzielle Interessen der Untersucher bringen schon in der Planung Studien in Schieflage,  dass er nicht einsieht, hier mitzumachen. Das Munafo/Ioannides Manifesto zeigt Auswege aus der verfahrenen Situation: Wir brauchen wieder eine akademische Schule der Verantwortung im Team, aber auch der Teamleitung.

Martin Lohse, MDC Berlin

Lohse, Direktor des MDC Berlin (“Forschungsfreiräume arrangieren – Arbeit an einer Reform der Bewertungsmaßstäbe wissenschaftlicher Leistung”) widerspricht Haverich, dass die klinische Forschung in der Krise ist. Er plädiert dafür, dass auch Fehler möglich sein müssen, da wir in unsicherem Terrain unterwegs sind. Fehler werden sich langfristig “herausmendeln”. Wir müssen Vertrauen in die Wissenschaftsprozesse haben, keine Kontrolle kann das Vertrauen ersetzen.

Kroemer, Vorstand der Universitätsmedizin Göttingen, Baum, Präsident der MHH Hannover und Grüters-Kieslich, Ärztliche Direktorin Universitätsklinikum Heidelberg, teilen sich das Thema “Verantwortungsluft nach oben? Was die Hochschulleitungen für die Qualitätssicherung der medizinischen Forschung tun können”.

Heyo Kroemer, Universitätsmedizin Göttingen
Christopher Baum, MHH Hannover
Annette Grüters-Kieslich, Universitätsklinikum Heidelberg

Während sich Kroemer und Baum vorwiegend auf Business Kennzahlen ihrer Einheiten beschränken und Qualitätssicherungsmassnahmen in einem heterogenen Umfeld vorstellen (wobei Baum die “Todesstrafe bei Fehlverhalten” anprangerte), hatGrüters-Kieslich sehr konkrete Vorschläge ebenfalls angelehnt an Munafo/Ioannides 2017. Auf ihrer Todo Liste zur Qualitätssicherung steht
1. die Infrastruktur auf den neuesten Stand der Technik zu bringen
2. die konstante Supervision des medizinischen Personals
3. geschützte Zeiten für Forschung
4. Training der Studenten in Methoden der Grundlagenwissenschaften
4. Limitierung der Grösse von Departments
5. Hinterlegen von Rohdaten
6. keine direkten Inzentifs
7. Vorbildfunktion der Vorgesetzten, die Haltung vermittlen
8. transparente Kriterien für langfristige Positionen
9. während das LOM System (“leistungsorientierte Mittelvergabe”) eher abgeschafft werden sollte. Wenn wir nicht aktiv werden, verlieren wir hier das Vertrauen der Gesellschaft und demotivieren den Nachwuchs.

Im Anschluss stellten Michal-Ruth Schweiger, Benedikt Kaufer, Angelika Riemer und Volker Busskamp Ihre Lebensläufe vor. Bei aller Unterschiedlichkeit ist dabei erschreckend, wie lange hoch qualifizierte Wissenschaftler hingehalten werden, bis sie endlich eine unbefristete Beschäftigung erreichen. Schweiger berichtet dabei von dem enormen Leistungsdruck an dem Harvard Medical School, das Fangnetze im Treppenhaus zur Suizidprävention eingerichtet hat. Und Kaufer berichtet aus dem Labor von George Church, der über 100 Doktoranden hat. Riemer hat einen Facharztprüfung absolviert, für Notfall falls die Wissenschaftskarriere vorzeitig zu Ende gehen sollte. Und Busskamp gibt ein Plädoyer für die Freiheit der Wissenschaft als “das Labor ist mein Spielplatz”.

Michal-Ruth Schweiger, Universität Köln
Benedikt Kaufer, Freie Universität Berlin
Angelika Riemer, DKFZ Heidelberg
Volker Busskamp, Technische Universität Dresden
Claudia Wiesmann, Georg-August Universität Göttingen

Wiesemann, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Göttingen (“Medizinethik als hohe Schule des Forschungsethos”) spannte einen Bogen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke 1947 über Pappworth (Human Guinea Pigs), Beecher Ethics and Clinical Research, Belmont Report (Beauchamp, Childress)  bis zu aktuellen Fragen des Genome Editing. Wiesemann wehrt sich dabei gegen die “Totschlagsargument” jeder Diskussion:
1. Vorwürfe gegen die Menschenwürde zu verstossen ohne genaue Differenzierung
2. Forderung eines Nachweises der prinzipiellen Unschädlichkeit
3. Nachweis eines eindeutigen Nutzens oder auch
3. generelle schiefe Ebene / slipper slope Argumente oder
4. die Forderung, erst die Öffentlichkeit zu konsultieren.
Ethik definiert sie als normative Theorie “dicker” Begriffe: Mensch: Nutzen, Leben/Tod: Schaden. Kennzeichen einer professionellen, angewandten Ethik laut Wiesemann ist die Transparenz normativer Grundlagen, eine Reflexion der Begriffe und hinreichende Erklärung, der systematische Perspektivenwechsel und die Kenntnis einschägiger empirischer Daten. Ihre These dabei ist, dass Ethik sich selbst einer Qualitätssicherung unterziehen muss. Die anschliessende Diskussion macht deutlich, dass es solche k.o. Argumente von beiden Seiten gibt, unter anderem das Argument aus der Wissenschaft “wenn wir es nicht machen, dann macht es jemand anderes.”

Zum Abschluss kamen die Politiker/innen zu Wort: Gabriele Heinen-Kljajic und Rüdiger Eichel, Hannover sowie Rolf Greve, Hamburg. Ihr Thema “Welche regulativen Kräfte kann die Wissenschaftspolitik für eine seriöse-medizinische Forschung mobilisieren?” Die Kritik reicht von fehlender Translation bis zu Statuspromotionen und dem niedrigen Ausbildungslevel in Wissenschaftstheorie. Weitere Kritikpunkte: Mangelnde Reproduzierbarkeit, fehlende Verantwortung und wenig Transparenz, wenn 50% der Negativergebnisse nicht publiziert werden. Hier etwas zu ändern hiesse so Greve, “einen Friedhof umzulagern, with no help from inside”.

Gabriele Heinen-Kljajic, Hannover
Rüdiger Eichel, Hannover
Rolf Greve, Hamburg

In der abschliessenden Plenardiskussion wird dem nicht widersprochen. Keiner will hier eine Initiative der Legislative, dringend notwendig sind aber bessere Anreize für eine redliche Wissenschaft.