Zu dem SZ-Gastbeitrag „Die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit gefährdet die Demokratie“ (Nassehi & Tschöp 2025) eine Kritik in zehn Punkten.
Vermischung normativer und analytischer Argumente
Der Text springt zwischen moralischer Empörung („Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit“) und theoretischer Begründung (Bezug auf Weber, Jaspers) hin und her. Dadurch bleibt unklar, ob die Autoren nun eine soziologische Analyse liefern oder eine politische Stellungnahme formulieren wollen. Dieser Zickzack Kurs schwächt die argumentative Klarheit. Eine klare Trennung der analytischen Ebene „Welche gesellschaftlichen Mechanismen bedrohen Wissenschaftsfreiheit?“ und des normativen Teils: „Warum sie für Demokratie unverzichtbar ist?“ mit Beleg durch empirische Beispiele oder Forschung wäre überzeugender gewesen.
Zirkularität der Hauptthese
Die Kernbehauptung lautet sinngemäß daß „Wissenschaft nur in Freiheit gedeihen kann und Freiheit gibt es nicht ohne Wissenschaft.“ Das ist logisch zirkulär, denn es wird nicht gezeigt, warum denn Freiheit nun zwingend von Wissenschaft abhängt. Die Behauptung steht tautologisch im Raum, ohne empirische oder historische Belege. Überzeugend wäre gewesen, warum Freiheit für Wissenschaft nötig ist (methodische Offenheit, Peer Review, Kritikfähigkeit, Weiterentwicklung). Und dann liesse sich auch unschwer empirisch zeigen, daß wissenschaftliche Rationalität demokratische Verfahren stärken kann (z. B. evidenzbasierte Politik, deliberative Öffentlichkeit) und eine gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Alles andere ist die aufgeblähte Rhetorik einer Proseminar Arbeit.
Übertragungsfehler auf allgemeine Demokratietheorie
Die Erregung mag ja nun verständlich sein an der grössten deutschen Universität. Der Artikel stützt sich auf die US-Politik unter Trump/Kennedy, zieht daraus aber weitreichende Schlüsse über Demokratien im Allgemeinen. Der Übergang von einem spezifischen und zugegeben unangenehmen Fall zu einer universellen Diagnose („auch hierzulande droht Gefahr“) bleibt unbegründet. Besser wäre ein komparativer Vergleich gewesen statt der praktizierten Erregungskultur: Beispiele aus Polen, Ungarn, Brasilien, Türkei zeigen das Muster von politischer Instrumentalisierung zu Einschränkung der Autonomie über den Vertrauensverlust bis hin zur “Demolierung der Demokratie”.
Idealisiertes Wissenschaftsbild
Die Autoren zeichnen ein idealisiertes, fast schon sakrales Bild von Wissenschaft („Fakten bleiben bestehen, auch wenn alles Wissen vernichtet wird“). Damit werden methodische und institutionelle Fehlbarkeit weitgehend ausgeblendet – z. B. Machtstrukturen, Gender Bias, Publikationszwänge, Reproduzierbarkeitskrise. Der Text reflektiert zwar kurz „Selbstkritik“, aber nur oberflächlich und mehr pflichtschuldig. Wissenschaft sollte realistischer als soziales System mit Fehlanreizen, Macht, Hierarchie und Interessen beschrieben werden. Gerade weil Wissenschaft fehleranfällig ist, braucht sie Freiheit zur Korrektur.
Mangelnde Differenzierung von „Freiheit“
„Wissenschaftsfreiheit“ wird als absoluter Wert dargestellt, ohne zwischen äußerer Freiheit (also vor politischer Zensur) und innerer Freiheit (etwa durch ökonomische, institutionelle oder soziale Zwänge) zu unterscheiden. Die Autoren erwähnen zwar die „Schere im Kopf“, analysieren diese aber nicht weiter – das Argument bleibt im luftleeren Raum stehen.
Appell statt Argumentation
Große Teile des Textes bestehen aus Appell- und Bekenntnisrhetorik („Wir haben viel zu verlieren“). Es werden kaum Belege, empirische Beispiele oder Gegenargumente präsentiert. So ist der Beitrag dann doch eher Plädoyer mit Pathos im Schlussabschnitt – um Wirkung zu entfalten, aber nicht um rational zu überzeugen.
Widerspruch zwischen Selbstkritik und Autoritätsanspruch
Am Schluss fordern die Autoren zwar „mehr Selbstkritik“ und „wissenschaftliche Klärung“ ein, ohne aber ihre eigenen normativen Prämissen zu hinterfragen. Das schwächt den Anspruch *wissenschaftlich* über Wissenschaft zu sprechen. Es ist eine verpasste Chance, explizit die eigenen institutionellen Rolle reflektieren, wie sie an der Spitze des Wissenschaftsbetriebs profitieren von Macht und Geld und Strukturen, die Kritik erschweren.
Fehlende Auseinandersetzung mit legitimer Wissenschaftskritik
Un nicht zuletzt: Die „Elitenkritik“ wird erwähnt, doch die Autoren behandeln sie vor allem als Gefahr, nicht als möglicherweise berechtigte gesellschaftliche Rückmeldung. Dadurch wirkt der Text selbst elitär – ein blinder Fleck im Hinblick auf das von ihnen geforderte „Vertrauen in Wissenschaft“. Vertrauen sollte nicht nur gefordert, sondern muss verdient werden.
Wissenschaftliche Unredlichkeit wird ignoriert
Übersehen wird dabei die eigentliche Vulnerabilität der Wissenschaft – die Faulgase im Inneren des Systems: erfundene Daten und gefälschte Grafiken, Plagiate und mehrfach verwertete Daten, Zitierkartelle, Paper Mills und nicht zuletzt hochgradig selektive Darstellungen als Ursache der Replikationskrise. All das unterwandert die Idee wissenschaftlicher Redlichkeit von innen heraus und bedrohen ihre Glaubwürdigkeit weit stärker als der gesellschaftliche Erwartungsdruck, vor dem die Autoren warnt.
Finis
Der Text stammt offensichtlich von Nassehi; von Tschöp sind bisher nur Versuchsbeschreibungen von übergewichtigen Mäusen überliefert. Frühere Nassehi Rezensionen haben angemerkt, dass er zuweilen in einer stark theoretischen und abstrakten Weise argumentiert – etwa in seinen Überlegungen zur digitalen Gesellschaft, wo weitreichende Thesen formuliert werden, ohne auf eine solide empirische Fundierung zurückzugreifen. Charakteristisch ist sein wiederholter Appell an ein gesteigertes Bewusstsein für Komplexität, Ambiguität und Perspektivendifferenz, verbunden mit einer Skepsis gegenüber „großen Gesten“. Paradoxerweise verfällt er jedoch in diesem Text selbst in eben jene rhetorische Haltung, vor der er sonst gerne warnt.
(mit chatGPT 5 Support)








