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COVID-19 Mortalität VI: Was hat sich an der S3 Leitlinie geändert?

Leider ist fast nichts von meiner früheren Kritik an der S2 Leitlinie in die Änderung eingegangen.

Textunterschiede sind auf https://draftable.com/compare/hYlCJnJHcxXm und Literaturunterschiede auf https://draftable.com/compare/PridZkDctdoA zu sehen. Zitat aus der revidierten Leitlinie

Daten aus Vorteilen bzw Risiken einer invasiven Beatmung versus einer möglichst ausgedehnten NIV- Therapie bei COVID-19 Patienten fehlen bisher. Bisher publizierte kleinere Kohortenstudien wiesen in Bezug auf die berichteten Endpunkte ein hohes Risiko für Bias auf. Außerdem muss die Evidenz als indirekt bewertet werden, weil keine RCTs mit definierter Interventions- und Kontrollgruppe eingeschlossen werden konnten, sondern bei klinischer Verschlechterung von einem hohen Cross-over vom NIV- in den IMV-Arm ausgegangen werden muss. Aus der systematischen Recherche wurden für diese Leitlinie retrospektive Studien aus dem Review von Schünemann et al., sowie den nachfolgenden Updates einbezogen, deren Aussagesicherheit zum Vergleich NIV – Invasive Beatmung sehr schwach ist (74, 75). Zusätzlich haben die Autoren neuere und größere Fallserien berücksichtigt (76-85) die allerdings die Aussagesicherheit der Evidenz nicht ändern, jedoch die Vergrößerung des Erfahrungswissens deutlich machen.

Der Hauptautor der Leitlinie verschweigt seine eigenen, eigentlich katastrophal schlechten Ergebnisse (https://www.australiancriticalcare.com/article/S1036-7314(20)30334-9/fulltext) und unterschlägt zudem kritische Meinungen, etwa von Tobin im ERJ (dort auch noch weitere Studien, die alle keinen Eingang in die Leitlinie gefunden haben).

Es sterben doppelt so viele Patienten an COVID-19 in Hamburg als in München. Wir wissen auch warum (“Erfahrungswissen”) “Absence of evidence is not evidence of absence“. Ist denn dieser Satz so schwierig zu verstehen?

Kaum zu glauben: Die Autoren der Leitlinie haben im letzten Jahr trotz Millionenförderung sowohl eine DIVI Registerstudie als auch ein neues RCT zur NIV abgelehnt und beklagen jetzt ernsthaft, dass es kein RCT gibt.

EbM hat mittlerweile religiös-sektiererische Züge angenommen, ganz offen an dem ebm Netzwerk zu sehen.  Leider hat nun auch die AWMF ein grösseres Problem.

Evidenzbasierte Medizin (Teil II)

Um das Versagen von EbM in der Corona Krise zu erklären, hier nun doch noch ein zweiter Teil mit den offenen Fragen zumal der erste Teil schon fast tausendmal geklickt wurde.

Gute Wissenschaft stellt Fragen, gibt aber nicht immer Antworten.

Interessantes Google Ergebnis zu EbM 23/12/2020. Als Definition wird der Auszug aus einem BMJ Editorial verwendet… “a dangerous innovation, perpetrated by the arrogant to servecost cutters and suppress clinical freedom”.

Es geht hier, um es nochmal zu sagen, nicht um den allgemeinen Evidenzbegriff (“die unbezweifelbar erkennbare oder unmittelbare mit Wahrheitsanspruch auftretende Einsicht”), sondern um die spezielle Umdefinition bei der individuelle ärztliche Expertise mit externer Wahrscheinlichkeit aus systematischer Forschung kombiniert wird. Es geht EbM dabei allerdings nicht primär um die klinische Expertise, sondern um Recherche in der medizinischen Literatur, der kritischen Bewertung der Validität sowie dem EbM eigenen Klassifikationssystem zur Anwendung im konkreten Fall.

I

EbM individualisiert damit den komplizierten Prozess der Translation von “Bench to Bedside” auf Ebene des Arztes der EbM Kriterien anwendet. Ist das wirklich sinnvoll oder überlässt man Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie nicht besser Experten, Lehrbüchern oder Fachgesellschaften?

II

EbM steigt extrem spät in die Translation ein – quasi als Trittbrettfahrer vorhandener Studienergebnisse ohne je an der experimentellen oder der klinischen Studienphase beteiligt zu sein. Ist es wirklich sinnvoll, die klinische Anwendung des Wissens so sehr von der Entstehung des Wissens zu trennen?

III

Für wieviel Prozent der klinisch relevanten Fragen es eigentlich randomisierte, doppelblinde Studien? 10%?

IV

Wieviel Medikamente hätte die Medizin eigentlich zur Verfügung wenn nur EbM compliant entwickelt und verordnet worden wäre? 10%

V

Für was will EbM eigentlich in der Corona Pandemie randomisieren? Für Übertragungswege? Genetik? Viruslast? Masken? Abstände?

VI

Ich hoffe, die EbM Community sortiert sich in den nächsten Jahren neu und kommuniziert die Grenzen ihrer Methode.

Evidence Based Medicine, Ioannidis und Covid-19

eine kurze Ergänzung zu „Der Fall Ioannidis“ – Schlamperei beim Gralshüter wissenschaftlicher Qualitätsstandards? im Laborjournal 6.2020 …

Dass John Ioannidis, einer der bekanntesten Systemkritiker der Biomedizin, derart hart am Boden aufschlägt, ist eines der verbüffendsten Phänomene der Corona Pandemie. Ioannidis, einer der am meisten zitierten Mediziner, nun plötzlich die treibendende Kraft hinter der desolaten US Politik, der direkte Gegenspieler von Lipsitch und Fauci, in einem Land, das wegen der ignoranten Politik nun unter 5,7 Millionen Fällen und 176.000 Todesfällen leidet?

Bei aller Sympathie, aber dieser Fenstersturz war eigentlich noch schlimmer als von Dirnagl beschrieben. Tragisch natürlich, nachdem es Dirnagl doch gelang, Ioannidis an das BIH Berlin zu holen. Aber selbst Youtube löschte dann doch das Ioannidis Interview (bei Dailymotion ist es noch verfügbar).

Den Platz in der ersten Reihe der Corona Leugner hatte sich Ioannidids mit dubiosen Aussagen zur “Princess Diamond” ja umgehend gesichert. Natürlich haben uns damals viele Daten gefehlt (und fehlen uns immer noch dank einer desolaten Forschungspolitik) aber den Lockdown als Atombombe zu bezeichnen? Zum Beweis der These von der Ungefährlichkeit der Virusinfektion mit allenfalls ” 10.000  Toten” kam erst die dubiose Santa Clara Studie, dann eine unvollständige Meta-Analyse, bis zu dem bereits erwähnten Paper zum Covid-19 Risiko in dem in einer   Untergruppe einer Untergruppe das Verkehrsrisiko als Vergleich diente. Hat Ioannidis, ungeachtet der methodischen Schwächen seiner Studien, aber vielleicht dennoch recht, fragt nun Dirnagl?

Die Begründung für den ersten Lockdown kam nicht allein aus der mathematischen Modellierung oder den ersten Daten aus der Infektionsepidemiologie – es gab Argumente aus Virologie, Molekularbiologie, Aerosolphysik, Immunologie und Klinik, die alle für drakonische Massnahmen sprachen (Ioannidis ist im übrigen schon beim nächsten Thema, er interessiert sich gerade für die Frage, wie man den Nobelpreis bekommt).  Sicher, man könnte sagen, ein Egomane eben “so attached to being iconoclast that defies conventional wisdom that he’s uninentionally doing horrible science” wie Wired schrieb. Nach den geleakten Emails bei BuzzFeed stimmt es aber wohl doch nicht, was Ioannidis immer betont hat — dass nämlich die Politik mit den sofortigen drakonischen Abwehrmaßnahmen richtig gehandelt hat. Im Gegenteil, er hat dagegen opponiert, bis es nicht mehr anders ging.

Ich sehe hier auch nicht so sehr die Preprints als Hauptproblem für die aktuelle Misere von EbM (“Evidence Based Medicine”). Die 100 Twitterkommentare eine Stunde nach dem Hochladen des Ioannidies Preprints waren aus epidemiologischer Sicht allemal qualifizierter als es zwei Reviewer jemals hätten sein können. Auch habe ich wenig Angst vor “Research Exceptionalism” –  gute Arbeitsgruppen aus renommierten Institutionen werden genauso gute Preprints wie gute Paper verfassen.

Das Problem scheint mir woanders zu liegen, nämlich wie dogmatisch die EbM-Gemeinde im Fahrwasser von Ioannides reagierte. So etwa Antes, den ich auch sehr schätze, der aber in der Badischen Zeitung meinte, Covid-19 sei der “Abschied von der Wissenschaft” und “da will ich Herrn Drosten widersprechen”. Das deutsche EbM Netzwerk erschöpfte sich in der Wiederholung des Mantras von kontrollierten Studien, etwa “wenig Evidenz, dass NPIs bei Covid-19 tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen” und demonstriert damit tragikomisch ihr Fallschirm Problem. Die Wikipedia schreibt völlig zurecht, dass

bei der Übertragung ins Deutsche [die Gründer] einem falschen Freund erlagen: Während evidence im Englischen je nach Kontext die Bedeutungen ‚Beweis‘, ‚Beleg‘, ‚Hinweis‘ oder ‚Zeugenaussage‘ hat, ist die Bedeutung von Evidenz im Deutschen Offensichtlichkeit (die keines Beweises bedarf) (englisch: obviousness). Deshalb wurde vorgeschlagen, im Deutschen die Bezeichnung “nachweisorientierte Medizin” zu verwenden, was sich jedoch nicht durchgesetzt hat.

Zugegeben, die deutsche Covid-19 Forschung war reichlich kopflos, als würde es keine Epidemiolog:innen in Deutschland geben. Wenn die Politik aber auf das systematische Cochrane Review mit EbM Siegel hätte warten müssen, dann hätten wir Schweden locker zweimal in der Mortalität überholt. Mit Artikeln wie “Corona-Virus in unseren Pflegeheimen – ein evidenzfreies Drama in drei Akten” war die Nähe von EbM zu Corona Leugnern wie Wodarg, Bonelli, Bhakdi oder Homburg schon sehr unangenehm. Und sie ist es weiterhin: Erst wurde gegen den Lockdown wegen der Kollateralschäden argumentiert und danach, dass der Lockdown ja nicht nötig gewesen – ein klassischer Zirkelschluss. Ich erinnere mich auch noch an solche pseudorationale Ansagen wie “sollte die Ausbreitung tatsächlich nur aufgrund der NPIs zurückgehen, so ist mit einem erneuten Anstieg zu rechnen, sobald diese gelockert werden”. EbM hat – um die Kritik Achensteins aufzugreifen – in der Tat keinen Sinn für den „erklärenden Zusammenhang“ und ist erstarrt in formalen Regeln.

Ich halte es mittlerweile für ein systembedingtes Versagen von EbM, die Dynamik des Geschehens formal erfassen zu wollen. Covid-19 hat vielen von uns unbarmherzig die Grenze unserer Argumente aufgezeigt. Gerd Gigerenzer unterscheidet “die Welt die stabil ist, wo man einfach die Statistik anwenden kann. Das ist die Welt von berechenbaren Risiken…”. Nur leider, Covid-19 hat sich bisher mehrfach den berechenbaren Risiken entzogen.

Die Kritik an dem anonymen EbM Pamphlet reisst daher nicht ab, so zB Drosten in NDR Podcast 56 und TAZ Interview. Seine Kritik geht zu falschen Zitaten, missverstandenen Ringversuchsdaten und der a posteriori Argumentation (“prevention paradox”) einer Gruppierung die selbst keinen inhaltlichen Beitrag liefert.

Teil II